Der traditionelle Fokus auf Schwächen – Ein Auslaufmodell?
Schon in der Schule lernen wir oft, uns auf unsere schlechten Noten zu konzentrieren. Im Berufsleben geht es in vielen Feedbackgesprächen primär darum, Entwicklungsfelder – also Schwächen – zu identifizieren und Maßnahmen zu deren Verbesserung zu definieren. Dieser defizitorientierte Ansatz ist weit verbreitet, doch ist er wirklich der effektivste Weg zu Wachstum und Spitzenleistung?
Die ständige Beschäftigung mit dem, was wir nicht gut können, kann frustrierend, demotivierend und energieraubend sein. Im besten Fall erreichen wir vielleicht Mittelmäßigkeit in einem Bereich, der uns eigentlich gar nicht liegt. Was wäre, wenn wir stattdessen die Energie darauf verwenden würden, unsere natürlichen Talente und das, was uns leichtfällt und Freude bereitet, weiter auszubauen?
Ein Paradigmenwechsel: Die Kraft der Stärkenorientierung
Hier setzt der Ansatz der Stärkenorientierung an, der maßgeblich von der Positiven Psychologie (u.a. durch Forscher wie Martin Seligman und Mihály Csíkszentmihályi) geprägt wurde. Statt zu fragen "Was ist falsch und wie reparieren wir es?", fragt die Stärkenorientierung: "Was funktioniert gut und wie können wir mehr davon bekommen?".
Stärken sind dabei mehr als nur Dinge, in denen wir gut sind. Es sind unsere natürlichen Talente, Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster, die uns Energie geben, uns authentisch fühlen lassen und uns ermöglichen, unser Bestes zu geben. Wenn wir unsere Stärken nutzen, sind wir oft engagierter, lernen schneller und fühlen uns zufriedener.
Warum Stärken stärken? Die Vorteile
Die Konzentration auf den Ausbau von Stärken bietet zahlreiche Vorteile gegenüber dem reinen Fokussieren auf Schwächen:
1. Höhere Motivation und Engagement
Wenn wir Tätigkeiten ausüben, die unseren Stärken entsprechen, erleben wir oft einen Zustand des "Flows" – wir sind voll konzentriert, die Zeit vergeht wie im Flug, und die Arbeit selbst fühlt sich belohnend an. Das ist intrinsische Motivation pur! Ständig an seinen Schwächen arbeiten zu müssen, kann hingegen als mühsam und erschöpfend empfunden werden und das Engagement deutlich mindern. Wer seine Stärken kennt und einsetzen kann, geht motivierter an die Arbeit.
2. Schnellere Entwicklung und Spitzenleistung
Es ist oft einfacher und effektiver, von "gut" zu "exzellent" in einem Bereich zu werden, der uns liegt, als von "schlecht" zu "mittelmäßig" in einem Bereich, für den wir wenig Begabung haben. Der Entwicklungsaufwand, der in den Ausbau einer Stärke investiert wird, bringt in der Regel einen höheren "Return on Investment" in Form von Leistungssteigerung. Unternehmen und Individuen, die auf Stärken setzen, haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, Spitzenleistungen zu erzielen.
3. Mehr Zufriedenheit und Wohlbefinden
Der regelmäßige Einsatz unserer Stärken trägt maßgeblich zu unserer Zufriedenheit und unserem psychischen Wohlbefinden bei. Es stärkt das Selbstwertgefühl, reduziert Stress und erhöht die allgemeine Lebens- und Arbeitszufriedenheit. Wenn wir tun können, was wir gut können und gerne tun, fühlen wir uns einfach besser.
Die eigenen Stärken entdecken: Wie geht das?
Viele Menschen sind sich ihrer eigenen Stärken gar nicht bewusst oder halten sie für selbstverständlich ("Das kann doch jeder!"). Es gibt verschiedene Wege, den eigenen Talenten auf die Spur zu kommen:
1. Selbstreflexion
Nehmen Sie sich Zeit und fragen Sie sich:
- Welche Tätigkeiten geben mir Energie, auch wenn sie anstrengend sind?
- Wann fühle ich mich lebendig, authentisch und "in meinem Element"?
- Was fällt mir leicht, während andere damit kämpfen?
- Wofür bekomme ich häufig positives Feedback oder Komplimente?
- Als Kind oder Jugendlicher, was habe ich da besonders gerne und gut gemacht?
2. Feedback einholen
Bitten Sie Menschen, denen Sie vertrauen (Kollegen, Freunde, Familie, Mentoren), um ehrliches Feedback:
- "Was siehst du als meine größten Stärken?"
- "In welchen Situationen hast du mich als besonders effektiv oder engagiert erlebt?"
- "Wofür würdest du mich um Rat oder Hilfe bitten?"
3. Stärkentests nutzen
Es gibt wissenschaftlich fundierte Instrumente, die helfen können, Stärken zu identifizieren und zu benennen. Bekannte Beispiele sind:
- CliftonStrengths (früher StrengthsFinder): Fokussiert auf 34 Talentthemen, die im beruflichen Kontext relevant sind.
- VIA Character Strengths (VIA-IS): Basiert auf der Positiven Psychologie und identifiziert 24 universelle Charakterstärken.
Diese Tests bieten eine gute Grundlage und eine gemeinsame Sprache, sollten aber immer durch Selbstreflexion und Feedback ergänzt werden.
Stärken im Job gezielt einsetzen und entwickeln
Die Identifikation der eigenen Stärken ist nur der erste Schritt. Der eigentliche Nutzen entsteht durch deren bewussten Einsatz und die Weiterentwicklung.
Bewusstsein ist der erste Schritt
Allein das Wissen um die eigenen Stärken kann das Selbstvertrauen stärken und helfen, Aufgaben und Herausforderungen anders anzugehen.
Job Crafting: Die Arbeit passend machen
Versuchen Sie aktiv, Ihre Aufgaben, Projekte und Arbeitsbeziehungen so zu gestalten ("Job Crafting"), dass Sie Ihre Stärken häufiger einsetzen können. Sprechen Sie mit Ihrer Führungskraft über Möglichkeiten, Ihre Rolle entsprechend anzupassen.
Entwicklungsgespräche stärkenorientiert führen
Führungskräfte können einen großen Beitrag leisten, indem sie in Mitarbeitergesprächen den Fokus verschieben: Statt nur Defizite zu besprechen, sollten sie gezielt fragen, wie der Mitarbeiter seine Stärken noch besser nutzen und weiterentwickeln kann, um zum Teamerfolg beizutragen.
Die Rolle von Training und Coaching
Das Bewusstsein für Stärken zu schärfen und Wege zu finden, diese strategisch einzusetzen, ist nicht immer einfach. Hier können professionelles Coaching oder gezielte Trainings eine wertvolle Unterstützung bieten. Ein Coach kann helfen:
- Stärken klarer zu identifizieren und zu verstehen.
- Selbstvertrauen in die eigenen Stärken aufzubauen.
- Strategien zu entwickeln, um Stärken gezielt zur Zielerreichung einzusetzen.
- Wege zu finden, wie Stärken genutzt werden können, um Schwächen zu kompensieren oder zu managen (nicht auszumerzen!).
- Im Teamkontext kann Training helfen, die Stärken aller Mitglieder sichtbar zu machen und für eine bessere Zusammenarbeit zu nutzen.